UZ, 22.4.2016:
An diesem Freitag sitzt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
wieder zu Gericht. Er ist Nebenkläger im Strafprozess gegen den
Chefredakteur der Cumhuriyet und den Leiter des Hauptstadtbüros der
regierungskritischen Tageszeitung, Erdem Gül. Den beiden droht
lebenslängliche Haftstrafe, nicht weil sie den Staatschef etwa beleidigt
haben – dafür müssen sich rund 2 000 andere Bürger des
EU-Beitrittskandidaten vor Gerichten verantworten und mit dem
ZDF-Satiriker Jan Böhmermann demnächst auch einer vor dem deutschen
Kadi. Can Dündar und Erdem Gül sind angeklagt wegen Spionage,
Landesverrat und Umsturzversuch. Terrorunterstützung kommt noch
obendrauf. Grund: Die beiden haben vor rund einem Jahr in ihrem Blatt
Waffenhilfe des türkischen Geheimdienstes MIT an islamistische
Terrormilizen in Syrien aufgedeckt.
Erdogan hat für den „Verrat“
Rache geschworen und die Journalisten persönlich angezeigt. Sie saßen
zwischenzeitlich drei Monate in Untersuchungshaft, erst auf Weisung des
Verfassungsgerichts kamen sie frei. Kurz vor Prozessauftakt im März
übernahmen Erdogan-freundliche Richter den Vorsitz im
„Spionageprozess“ – in einer ihrer ersten Amtshandlungen ließen sie den
Staatschef und seinen Geheimdienst als Nebenkläger zu und sie schlossen
die Öffentlichkeit vom weiteren Verfahren aus.
Im Gegensatz zu den
ZDF-Oberen, die ein „Schmähgedicht“ auf Erdogan in vorauseilendem
Gehorsam aus der Mediathek des Senders entfernt haben und Moderator
Böhmermann, der nach reichlich verursachtem Wirbel erst mal auf
Tauchstation gegangen ist, lässt sich die Redaktion der Cumhuriyet vom
Strafverfolgungswahn des türkischen Staatschefs nicht beeindrucken. In der vergangenen Woche deckte das Blatt einen
weiteren Geheimdienstskandal in ihrem Land aus. Erdogans
Sicherheitsbehörden haben demnach die Anschlagpläne der Terrormiliz IS
auf eine Friedenskundgebung linker und kurdischer Gruppen am 10. Oktober
im Zentrum von Ankara gekannt. Mehr als 100 Menschen wurden damals
getötet. Es war einer der schlimmsten Terrorakte in der jüngeren
Geschichte der Türkei.
Am Tag des Anschlags soll den Behörden sogar
der Name eines der beiden Selbstmordattentäter bekannt gewesen sein,
berichtete Cumhuriyet unter Berufung auf einen internen
Untersuchungsbericht. Wichtige Hinweise wurden demnach nicht
weitergegeben worden. Über verantwortliche Polizisten und
Geheimdienstbeamte hat der Gouverneur von Ankara eine Art Schutzschirm
gespannt. Er hat die Einleitung von Ermittlungen in dem Fall verhindert.
In
der Grenzstadt Gaziantep wurde derweil in der vergangenen Woche der aus
Syrien stammende Journalist Mohammed Sahir Al-Scherkat getötet. Das
Mordkommando verwendete Presseberichten zufolge eine Pistole mit
Schalldämpfer, um den 36-Jährigen wegen seiner IS-kritischen
Berichterstattung hinzurichten. Erst vor dreieinhalb Monaten war der
oppositionelle Filmemacher Nadschi Al-Dscherf ebenfalls in Gaziantep
erschossen worden. Zuletzt hatte er einen Film produziert, der
Gräueltaten des IS in der nordsyrischen Stadt Aleppo zeigt. Im
vergangenen Oktober waren zwei syrische Journalisten in der
südtürkischen Stadt Sanliurfa getötet.
Welche eigenen Erkenntnisse
die Bundesregierung über diese und weitere ungeklärte Mordüberfälle auf
Journalisten in der Türkei hat, will sie partout nicht sagen. Die
Beantwortung einer Anfrage der Linke-Abgeordneten Sevim Dagdelen
verzögert das Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel seit Wochen. Um den
Partner in Ankara, der für die EU den Türsteher bei der
Flüchtlingsabwehr spielen soll, nicht zu verstimmen, scheint jedes Wort
noch einmal extra auf die Goldwaage gelegt werden zu müssen.
Wohl
wegen Majestätsbeleidigung ist von den türkischen Behörden der Zugang
zur Webseite der Nachrichtenagentur und Rundfunkanstalt Sputnik gesperrt
geworden. Beim Besuch der englischsprachigen Webseite sputniknews.com
sowie ihrer Versionen in anderen Sprachen, bekommen türkische Nutzer
keine Informationen, sondern den Ankara-Ukas, dass „wegen technischer
Überprüfungen und rechtlicher Einschätzung, gemäß dem Gesetz 5651, nach
Beschluss 490.05.01.2016.–56092 vom 14.4.2016 der Verwaltung für
Telekommunikation und Netzwerke administrative Maßnahmen bezüglich
dieser Webseite (sputniknews.com) getroffen werden“.
Sputnik-Chefin
Margarita Simonjan fand für den Angriff auf die Presse in der Türkei
klare Worte: „Der Beschluss der türkischen Behörden, den Zugang zu
unserem Sputnik einzuschränken, ist ein weiterer Akt einer harten Zensur
im Lande, in dem es keine Meinungsfreiheit mehr gibt. Es gibt sie
einfach nicht. Besonders absurd ist dieser Beschluss angesichts der
Tatsache, dass Sputnik vor einigen Tagen eine Auszeichnung des
Journalistenverbandes in der Türkei erhielt.“
Die Sputnik-Seiten
wurden wenige Stunden nach der TV-Fragerunde „Der heiße Draht“ gesperrt.
In der mehrstündigen Sendung hatte sich der russische Präsident
Wladimir Putin unter anderem kritisch zu den russisch-türkischen
Beziehungen geäußert – ohne seinen Amtskollegen in Ankara namentlich zu
nennen. Die Türkei sei ein Freund Russlands, so Putin, allerdings gebe
es Probleme mit einzelnen Politikern, deren Verhalten Russland inadäquat
sei. So sei es ein Problem, dass die türkische Führung nicht gegen den
IS kämpfe, sondern mit ihm kooperiere.
jeudi 21 avril 2016
Freyheit und Democracy (57)
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