vendredi 6 mai 2016

Freyheit und Democracy (58)

jW, 7.5.2016:

Wladislaw Leonidowitsch Inosemzew, Jahrgang 1968, ist auf der einen Seite ein zu Hause erfolgloser liberaler Politiker aus Russland. Seine Vita weist jede Menge Parteiwechsel und fehlgeschlagene Kandidaturen für dieses und jenes Amt aus. Insofern teilt er das Schicksal der gesamten »prowestlichen« Opposition seines Landes: Das Publikum ist an den Herrschaften nicht interessiert.
Gerade erst hat eine Umfrage des – notabene mit westlichem Stiftungsgeld finanzierten – Moskauer Lewada-Instituts zur Protestbereitschaft der russischen Bevölkerung Ergebnisse veröffentlicht, die für alle Fans des Regimewechsels enttäuschend sein müssen. Stabile Mehrheiten um die 80 Prozent lehnen es ab, sich an Protestaktionen zu beteiligen, egal, ob mit wirtschaftlichen oder politischen Forderungen. Zur Teilnahme an solchen Protesten bereit sind demnach acht Prozent bei politischen und 15 Prozent bei wirtschaftlichen Forderungen.
Inosemzew weiß, in seinem zweiten Leben als Wissenschaftler und Gastdozent verschiedener westlicher Hochschulen und Stiftungen, auch, warum: Weil es den Menschen zu gut gehe. »Die Russen von heute leben besser als je zuvor, und deshalb wird ihre Unterstützung für das gegenwärtige Regime noch lange stabil bleiben«, diagnostizierte der Mann 2015 in einem Arbeitspapier der »Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik« (DGAP). Die Putin-Administration halte zwar den Laden auf autoritäre Weise zusammen und schere sich nicht um »europäische Werte«, gewähre aber den Bürgern dieselben im Innenverhältnis durchaus in Gestalt breiter persönlicher Freiheiten: Geschäfte zu betreiben, zu reisen, sich zu informieren. Wenig Anhaltspunkte also für eine »Farbenrevolution« nach ukrainischem Vorbild.
Das will Inosemzew nun mit Hilfe des Westens ändern. In einem Text in der aktuellen Ausgabe der von der DGAP herausgegebenen Fachzeitschrift Internationale Politik schlägt er vor, die gegenwärtigen Sanktionen der europäischen Union gegenüber Russland beispiellos zu verschärfen: EU-Banken sollten gezwungen werden, ihre Bestände an russischen Aktien und Anleihen zu verkaufen, was einen Kurssturz an der Moskauer Börse auslösen würde. Alle in russischer Hand befindlichen Immobilien in der EU sollten zwangsverkauft werden. Konten russischer Staatsbürger mit einem Bestand von mehr als 10.000 Euro wären aufzulösen – interessanterweise geht der Autor hier deutlich weiter als bis zu den 75.000 Euro Grenzwert, den er in seinem Text von 2015 forderte. Und schließlich solle die EU ihre Grenzen nicht nur für ein paar Spitzenbeamte schließen, sondern für alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Russland. Erst das tue der russischen Mittelschicht wirklich weh und könne sie gegen die Staatsmacht aufbringen, meint der Verelendungstheoretiker und gegenwärtige »Non Resident Fellow« des Atlantic Council aus Washington zu wissen.
Inosemzew beschwört die EU geradezu, ihr gegenwärtiges wirtschaftliches Übergewicht auf den Finanzmärkten gegen Moskau in Stellung zu bringen. Es gelte, die Agenda im Umgang mit Russland endlich einmal nicht von den Krämerseelen des Kapitals, sondern von der Politik schreiben zu lassen. Die wirtschaftlichen Kosten verschärfter Sanktionen seien beherrschbar: Russland sei von der EU viel abhängiger als umgekehrt. Und bei entsprechend harten Sanktionen werde das »Putin-Regime« irgendwann einmal ähnlich zusammenbrechen wie einst die Sowjetunion.
Dass Inosemzew für diesen Zusammenbruch einen Zeithorizont bis etwa 2025 angibt, also Putin noch eine Amtsperiode »zugesteht«. Das zeigt, dass da auch im Wald gepfiffen wird. Der Mann kann sich ohnehin nicht recht entscheiden, ob er Russland nun eher als Schrottimmobilie oder als Schnäppchen darstellen soll. In dem Aufsatz von 2015 beschreibt er den Zustand der russischen Volkswirtschaft und der Staatsfinanzen so, dass sich die EU die Finger lecken müsste, irgendwann einmal dieses Land aufnehmen zu dürfen: eine geringe Verschuldung, hohe Goldreserven, unermessliche Rohstoffvorräte und dergleichen.
Alles Faktoren, die freilich gegen das Wunschszenario der russischen Liberalen sprechen, dass Brüssel gegenüber Moskau seine Bedingungen diktieren könnte. »Russland wird erst dann ein normales Land sein, wenn seine Gesetze ihm von außen auferlegt werden und es keine Chance mehr gibt, dass der nächste Oberstleutnant in den Kreml lanciert wird«, schrieb Inosemzew in dem DGAP-Text von 2015. Irgendein Job in der Kolonialverwaltung dürfte dann für ihn wohl abfallen. Die Bewerbungsunterlagen sind hiermit eingereicht.
Einziger Haken: Ganz im Trend liegt Inosemzew offenbar nicht mehr. Gerade erst hat der scheidende US-Oberbefehlshaber Europa, Philip Breedlove, vor dem Versuch gewarnt, Wladimir Putin zu stürzen. Das könne nach hinten losgehen. Putin sei »rationaler« als alle, die auf ihn folgen könnten.

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