In der Debatte über einen möglichen Boykott der Olympischen Spiele in Peking wird vielfach auf das Beispiel des Boykotts der Olympiade in der sowjetischen Hauptstadt durch westliche Mächte - einschließlich der Bundesrepublik Deutschland - im Jahr 1980 verwiesen, und zwar häufig in affirmativer Absicht.
Der damals amtierende Bundeskanzler Helmut Schmidt hat sich nun mit einer Stellungnahme zu Wort gemeldet, die bei boykottfreudigen Gutmenschen (in- und außerhalb der politischen Linken) nur auf mäßige Begeisterung stoßen dürfte:
“[…] Tatsächlich habe ich den westlichen Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau von Anfang an und bis heute für sinnlos und schädlich gehalten, ebenso wie die heutigen Vorschläge für einen Boykott der Olympischen Spiele 2008 in Peking.
Dass die Bundesregierung des Jahres 1980 gleichwohl dem heftigen Drängen des US-Präsidenten Jimmy Carter gefolgt ist, war begründet in der strategischen Erwägung, dem ohnehin gespannten Verhältnis zur damaligen amerikanischen Führung nicht noch einen weiteren Konflikt hinzufügen zu dürfen; denn angesichts der sowjetischen Raketendrohung waren die Bundesrepublik und Westberlin existentiell auf die Schutzmacht USA angewiesen. Aus ähnlicher Abwägung haben damals auch Norwegen und die Türkei, beide wie auch wir unmittelbar mit überlegenen sowjetischen Streitkräften konfrontiert, schließlich dem amerikanischen Druck nachgegeben.
Übrigens hat [der Mittelstreckenläufer Thomas] Wessinghage recht: Der Boykott hat nichts gebracht.” (”Strategische Erwägung”, Leserbrief, SZ vom 22./23./24.3.2008)
Diesem Urteil könnte entgegnet werden, daß der Boykott der Olympischen Spiele 1980 durchaus etwas gebracht hat, nämlich die Stigmatisierung des Gastgebers, der UdSSR, als eines Aggressorstaates, der mit Afghanistan ein friedliebendes muslimisches Land mit Krieg überziehe. Selbstverständlich begünstigte der öffentlichkeitswirksame Boykott gegen “Moskau” somit auch die Verherrlichung jener islamischen “Freiheitskämpfer”, die in Afghanistan bereits vor dem als Friedensbruch verurteilten offenen militärischen Eingreifen der Sowjets im Dezember 1979 terroristische Anschläge auf “gottlose” zivile Einrichtungen unternommen hatten (als solche galten etwa Schulen oder Krankenhäuser, in denen - wie “unislamisch”! - auch Frauen arbeiteten). Das dröhnende Schweigen “linker” wie “rechter” Freunde islamistischer “Freiheitskämpfer” zu der unter dem grünen Banner des Propheten sich vollziehenden systematischen Negation aller Menschen- und Bürgerrechte im Afghanistan der 1990er Jahre (und anderen islamisch “befreiten” Zonen) ist bekannt.
Die radikalsten Elemente innerhalb des - seitens der USA, des Iran, Pakistans und Chinas unterstützten - islamistischen “Widerstandes” von Afghanen und Nichtafghanen (unter den letzteren auch Osama Bin Ladin) vermochten 1996, mit Wohlwollen des “Westens”, die afghanische Hauptstadt Kabul zu erobern. Ihrem theokratischen Terrorregime fielen im Frühjahr 2001 die Buddha-Statuen von Bamiyan (und andere materielle Zeugnisse des buddhistischen wie des hinduistischen Kulturerbes in Afghanistan) zum Opfer.
Stellen die gegenwärtigen wohlfeilen Boykottaufrufe gegen Peking, die mit der Mißachtung der Rechte tibetischer Buddhisten begründet werden, in gewisser Hinsicht Ersatzhandlungen für das grundsätzliche Desinteresse am Schicksal des tibetischen und vor allem des außertibetischen Buddhismus dar? Jedenfalls hindert der Umstand, daß es in der “islamischen Welt” praktisch keine buddhistischen Gemeinschaften mehr gibt, da die mit dem Buddhismus verbundenen Kulturtraditionen unter islamischer Herrschaft als heidnisch ausgelöscht wurden, das Gros jener europäischen und nordamerikanischen “Menschenrechtler”, die China an den Pranger stellen, nicht daran, den Islam als eine “Religion des Friedens” zu verherrlichen und muslimische Gewaltsezessionisten - auch in Europa - als Repräsentanten “unterdrückter Völker” hoffähig zu machen.
Von einem freiheitlich-konservativen Standpunkt aus läßt sich der Geringschätzung des beeindruckenden spirituellen Reichtums, den der tibetische Buddhismus bietet, nichts abgewinnen. Ebenso wenig jedoch sollte das - in den 1950er Jahren der chinesisch-kommunistischen Herrschaft erlegene - “alte Tibet”, eine feudale Theokratie, als eine Idylle der Selbstverwirklichung des tibetischen homo religiosus verklärt werden. Vor allem aber verbittet sich jegliche Bekundung der “Solidarität” mit Gewalttätern, die das Eigentum und die körperliche Unversehrtheit von Zivilisten in Frage stellen - dies gilt für die Plünderungen und tätlichen rassistischen Angriffe auf Chinesen in Lhasa ebenso wie für die Intifada muslimischer junger Männer in französischen Vorstädten (und anderswo in Europa).
Auch ein Staat wie China ist kontinuierlich mit begründeter menschenrechtlicher Kritik zu konfrontieren, er eignet sich jedoch nicht als Zielscheibe wilder Attacken politischer Romantiker, die die Tibeter als eine Projektionsfläche für ihre antizivilisatorischen Sehnsüchte mißbrauchen. Solche Romantiker suchen mit China weniger die Relikte einer kommunistischen Diktatur, als ein im Kern säkulares, modernistisches und an ökologistischen Neuordnungsbestrebungen wenig interessiertes politisches Gemeinwesen zu dämonisieren.
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