NZZ, 31.3.2016:
Empört in Kroatien und Bosnien,
überrascht in Serbien: So hat die Öffentlichkeit auf den Freispruch des
serbischen Ultranationalisten Vojislav Seselj reagiert. Die Anklage
hatte 28 Jahre Gefängnis für begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verlangt.
Die
kroatische Regierung verhängte eine lebenslange Einreisesperre: Seselj
sei eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Regierungschef Tihomir
Oreskovic bezeichnete das Urteil als Schande. Dass Seselj laufen
gelassen werde, sei schlicht «unglaublich», sagte der Vorsitzende des
bosnischen Ministerrats, Denis Zvizdevic. Auch Opferverbände äusserten
sich entsetzt. In Serbien war die offizielle Reaktion verhalten.
Präsident Tomislav Nikolic sagte lakonisch, er sei «indifferent».
Nikolic war jahrelang Weggefährte Seseljs, bevor er sich 2008 von ihm
trennte.
Ministerpräsident
Aleksandar Vucic, der abtrünnige Zögling von Seselj, schwieg am Tag des
Urteils. Menschenrechtsaktivisten in Serbien kritisierten die
Urteilsbegründung, die bis in die Wortwahl Seseljs Sicht der Dinge
übernehme. Der Freispruch, so die Juristin Natasa Kandic, werde die
Revision nicht überleben. Aus Moskau gratulierte Vizeministerpräsident
Dmitry Rogozin «seinem Freund» zum Urteil.
Seselj
selber feierte mit Anhängern in der Parteizentrale. Er war 2014 zur
Krebsbehandlung vorläufig aus der Haft entlassen worden. Er lobte die
Professionalität der Richter des Tribunals, das er üblicherweise als
Instrument westlicher Hegemonie bezeichnet. Er werde für seine
12-jährige Haft in Scheveningen eine Genugtuung von ebenso vielen
Millionen Euro verlangen und das Geld seiner Partei geben. Diese führt
seit dem Abgang von Vucic und Nikolic ein Schattendasein.
Mit
dem Richterspruch geht ein pannenreicher 13-jähriger Prozess zu Ende.
Die Anklage hatte dem 62-Jährigen vorgeworfen, an einer «gemeinsamen
kriminellen Unternehmung» beteiligt gewesen und für Kriegsverbrechen in
Bosnien, Kroatien und der Vojvodina verantwortlich zu sein.
Freiwilligenverbände hätten unter seiner Anleitung gemordet und
gefoltert. Zudem habe Seselj mit seinen Hetzreden zur Ermordung und
Vertreibung von Bosniaken (Muslimen) und Kroaten aufgerufen.
Das Gericht kam zu andern Schlüssen.
Es zerzauste die Anklageschrift komplett und kritisierte sie als
unpräzise, und «maximalistisch». Die Ankläger hätten den historischen
Kontext des auseinanderbrechenden Staates Jugoslawien ausgeblendet.
Seseljs Projekt, alle Serben in einem Staat zu sammeln, sei nicht per se
kriminell. Aus der Propagierung dieser Idee lasse sich keine direkte
Verantwortung für Kriegsverbrechen ableiten. Zumal, weil Seseljs
Freiwilligenverbände in andere Formationen eingegliedert worden seien,
in denen der Angeklagte keine Kommandogewalt gehabt habe.
Am
überraschendsten ist der Freispruch in Bezug auf die Aufrufe zur
Gewaltanwendung. Seselj hatte 1991 in einer Rede während der Belagerung
des kroatischen Vukovar gesagt, kein «Ustascha», ein Schimpfwort für
Kroaten, werde diese Stadt lebend verlassen. Aus solchen Äusserungen, so
das Gericht, könne eine direkte Mitschuld an begangenen Verbrechen
nicht abgeleitet werden. Während bekannt war, dass die Anklage in vielen
Punkten auf schwachen Füssen stand, waren viele Beobachter davon
ausgegangen, dass Seseljs masslose Hetzreden strafbar seien.
Seselj hatte sich vor 13 Jahren freiwillig gestellt. Das grotesk lange Verfahren war von Verzögerungen und Pannen geprägt, die nur zum Teil auf Seseljs unbotmässiges Verhalten zurückzuführen sind. [...]
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