dimanche 3 avril 2016

"Schiffbruch auf der ganzen Linie" (NZZ) für die Justizsoldaten der NATO


NZZ, 31.3.2016:

Empört in Kroatien und Bosnien, überrascht in Serbien: So hat die Öffentlichkeit auf den Freispruch des serbischen Ultranationalisten Vojislav Seselj reagiert. Die Anklage hatte 28 Jahre Gefängnis für begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verlangt.
Die kroatische Regierung verhängte eine lebenslange Einreisesperre: Seselj sei eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Regierungschef Tihomir Oreskovic bezeichnete das Urteil als Schande. Dass Seselj laufen gelassen werde, sei schlicht «unglaublich», sagte der Vorsitzende des bosnischen Ministerrats, Denis Zvizdevic. Auch Opferverbände äusserten sich entsetzt. In Serbien war die offizielle Reaktion verhalten. Präsident Tomislav Nikolic sagte lakonisch, er sei «indifferent». Nikolic war jahrelang Weggefährte Seseljs, bevor er sich 2008 von ihm trennte.

Ministerpräsident Aleksandar Vucic, der abtrünnige Zögling von Seselj, schwieg am Tag des Urteils. Menschenrechtsaktivisten in Serbien kritisierten die Urteilsbegründung, die bis in die Wortwahl Seseljs Sicht der Dinge übernehme. Der Freispruch, so die Juristin Natasa Kandic, werde die Revision nicht überleben. Aus Moskau gratulierte Vizeministerpräsident Dmitry Rogozin «seinem Freund» zum Urteil.

Seselj selber feierte mit Anhängern in der Parteizentrale. Er war 2014 zur Krebsbehandlung vorläufig aus der Haft entlassen worden. Er lobte die Professionalität der Richter des Tribunals, das er üblicherweise als Instrument westlicher Hegemonie bezeichnet. Er werde für seine 12-jährige Haft in Scheveningen eine Genugtuung von ebenso vielen Millionen Euro verlangen und das Geld seiner Partei geben. Diese führt seit dem Abgang von Vucic und Nikolic ein Schattendasein.

Mit dem Richterspruch geht ein pannenreicher 13-jähriger Prozess zu Ende. Die Anklage hatte dem 62-Jährigen vorgeworfen, an einer «gemeinsamen kriminellen Unternehmung» beteiligt gewesen und für Kriegsverbrechen in Bosnien, Kroatien und der Vojvodina verantwortlich zu sein. Freiwilligenverbände hätten unter seiner Anleitung gemordet und gefoltert. Zudem habe Seselj mit seinen Hetzreden zur Ermordung und Vertreibung von Bosniaken (Muslimen) und Kroaten aufgerufen.

Das Gericht kam zu andern Schlüssen. Es zerzauste die Anklageschrift komplett und kritisierte sie als unpräzise, und «maximalistisch». Die Ankläger hätten den historischen Kontext des auseinanderbrechenden Staates Jugoslawien ausgeblendet. Seseljs Projekt, alle Serben in einem Staat zu sammeln, sei nicht per se kriminell. Aus der Propagierung dieser Idee lasse sich keine direkte Verantwortung für Kriegsverbrechen ableiten. Zumal, weil Seseljs Freiwilligenverbände in andere Formationen eingegliedert worden seien, in denen der Angeklagte keine Kommandogewalt gehabt habe.

Am überraschendsten ist der Freispruch in Bezug auf die Aufrufe zur Gewaltanwendung. Seselj hatte 1991 in einer Rede während der Belagerung des kroatischen Vukovar gesagt, kein «Ustascha», ein Schimpfwort für Kroaten, werde diese Stadt lebend verlassen. Aus solchen Äusserungen, so das Gericht, könne eine direkte Mitschuld an begangenen Verbrechen nicht abgeleitet werden. Während bekannt war, dass die Anklage in vielen Punkten auf schwachen Füssen stand, waren viele Beobachter davon ausgegangen, dass Seseljs masslose Hetzreden strafbar seien.

Seselj hatte sich vor 13 Jahren freiwillig gestellt. Das grotesk lange Verfahren war von Verzögerungen und Pannen geprägt, die nur zum Teil auf Seseljs unbotmässiges Verhalten zurückzuführen sind. [...]

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