mercredi 9 septembre 2015

Freyheit und Democracy (44)

jW, 10.9.2015:

Es war unbestritten die größte Demonstration in der Republik Moldau seit der Abspaltung des Landes von der Sowjetunion 1991. 40.000 Teilnehmer zählte die Polizei am Wochenende in der Hauptstadt Chisinau, 100.000 nannten die Veranstalter von der Bewegung »Würde und Wahrheit«. Forderungen waren ein Ende von Korruption und Klüngelwirtschaft, der Rücktritt von Staatspräsident Nicolae Timofti, vorgezogene Neuwahlen und ein beschleunigter Kurs Moldaus auf EU-Integration. Am Sonntag abend stellte ein Teil der Demonstranten einander optisch sehr ähnliche Zelte auf dem Platz vor dem moldauischen Parlament auf und erklärte, bis zur Erfüllung der Forderungen dort bleiben zu wollen. Ähnlichkeiten zum Kiewer Euromaidan waren gewollt.

Die Besonderheit der Bewegung in Moldau ist, dass sie sich gegen eine Regierung richtet, die ebenfalls nach »Europa« will und erst im Juli unter Mithilfe der EU installiert worden ist. Allerdings haben sich die gegenwärtigen Machthaber ebenso wie die vorherigen, die von den Kommunisten geduldet wurden, durch ihre Verwicklung in den größten Finanzskandal in der Geschichte Moldaus kompromittiert. Eine Gruppe von politisch gut vernetzten Geschäftsleuten hatte in den Jahren seit 2012 nach und nach drei staatliche Banken übernommen und anschließend angebliche Kredite in Höhe von 1,3 Milliarden Euro an Briefkastenfirmen in Offshore-Banken-Paradiesen wie Hongkong und Zypern vergeben. Dabei wurden, wie die britische BBC recherchierte, Banken in Lettland und britische Rechtskonstruktionen wie »Limited Partnerships« genutzt, eine Unternehmensform, die ganz auf Intransparenz hin optimiert ist. Kurz vor der Parlamentswahl im November 2014 flog der Schwindel dann auf.

Beim »großen moldauischen Bankraub«, wie das entsprechende Radiofeature der BBC betitelt war, wurde etwa ein Achtel des jährlichen moldauischen Sozialprodukts gestohlen, oder anders gesagt ungefähr das, was die eine Million Moldauer, die in Russland und Westeuropa jobben, in einem Jahr in die Heimat überweisen. Entsprechend groß ist die Wut der Bevölkerung. Immer wieder riefen die Demonstranten: »Gebt die Milliarde zurück!« Das wird die Regierung nicht können. Sie musste die ausgesaugten Banken übernehmen und zum Ausgleich für die Verluste die Notenpresse anwerfen. Als Folge stieg die Inflationsrate auf 20 Prozent, und die Landeswährung Leu stürzte innerhalb eines Monats um 34 Prozent ab.

Im Prinzip also eine Situation, die geradezu danach schreit, von der moldauischen Linken, die in Umfragen nach wie vor rund die Hälfte der Stimmen erhält, politisch genutzt zu werden. Doch Kommunisten und Sozialisten sind offensichtlich unschlüssig, wie sie sich zu der neuen Bewegung verhalten sollen. Die ist angeblich ein Kind der »moldauischen Zivilgesellschaft«, wird aber faktisch von zwei im Ausland lebenden moldauischen Geschäftsleuten finanziert. Das Publikum, das sich bei »Würde und Wahrheit« versammelt, ist seinerseits an einer Allianz mit der Linken nicht interessiert. Es setzt sich zusammen aus den üblichen Studenten, »Kreativen« und anderen Kleinunternehmern, verstärkt um rumänische Nationalisten. Auf den inzwischen fünf Großdemonstrationen, die das Bündnis veranstaltet hat, waren immer wieder auch Rufe nach einem Anschluss Moldaus an Rumänien zu hören.

Die EU hat nach dem Bankenskandal in Moldau offensichtlich die Geduld mit dem Land verloren. Alle Hilfszahlungen, die eigentlich im Rahmen des Assoziierungsverfahrens fließen sollten, wurden im Frühjahr storniert, bis »die moldauischen Institutionen wieder Vertrauen verdienen«. Vor diesem Hintergrund ist es denkbar, dass Brüssel insgeheim die Liquidierung des Staates Moldau durch seinen Anschluss an Rumänien zumindest als kleineres Übel hinnehmen könnte. Eine rechtspopulistische Bewegung, deren Politik nichts als Willfährigkeit gegenüber Brüssel zum Inhalt hat, könnte den Job machen und sich darüber hinwegsetzen, dass nur noch ein gutes Drittel der moldauischen Bevölkerung »nach Europa« will. Die Zahl stammt von Igor Botan, einem Mitbegründer von »Würde und Wahrheit«.

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