samedi 31 mai 2008

Tibet - Projektionsfläche europäischer Anti-Modernisten


"Die neue Aufregung um Tibet ist typisch für die effektgeladene Kurzsichtigkeit. Mit dem, was in Asien vor sich geht, lässt sich die internationale Aufregung nicht erklären. Auch nicht mit dem Erfolg der PR-Agenturen, die pünktlich zur Olympiade für Tibet und gegen China die Werbetrommel zu rühren begonnen haben. Vielmehr ist diese Weltregion neben der 'Klimakatastrophe' und der 'Terrorangst' jüngst zur weiteren großen Projektionsfläche für die Selbstzweifel in Europa aufgestiegen. Die einen finden die esoterische Spiritualität der Tibetmönche verlockend, andere sehnen sich nach einer geistigen Führung à la Dalai Lama. Er ist im Übrigen eine 'historische' Figur, die erstmals im Kalten Krieg der 50er-Jahre Kultstatus erhielt, weil sie Tibet gegen den Machtanspruch des stalinistischen Chinas in die westliche 'Moderne' führen wollte. Jetzt, wo China auf eben diesem Weg ist, wendet sich der Dalai Lama dagegen. Wieder andere transportieren ihre Angst vor dem wirtschaftlichen Untergang des Westens gegenüber den asiatischen Aufsteigernationen oder lassen sich einfach von rassistischen Ressentiments gegen die 'gelbe Gefahr' anstecken.

Über Tibet selbst weiß kaum jemand Genaues - doch das Resultat der aktuellen Kampagne ist nicht minder erdrückend: Ein regionaler Konflikt wird internationalisiert, und die westliche Öffentlichkeit sonnt sich auch noch in der zynischen Erniedrigung Chinas, die in der internationalen Diplomatie Spuren hinterlassen wird. Dass einem dabei auch noch die Lust auf die Olympischen Spiele vergehen kann, erscheint fast nebensächlich."


(Thomas Deichmann, Freiheit in Zeiten der Terrorangst, in: NOVO 94 (05-06 2008), S. 3)

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