dimanche 2 octobre 2016

Da man mit den Zeiten lebt, sind die Haken nicht mehr überklebt


jW, 1.10.2016:

Hat er nicht deutliche Worte gefunden, der Bundespräsident? »Ein einzigartiger Schreckensort« sei Babyn Jar, sagte Joachim Gauck, als er am Donnerstag zur Erinnerung an den dortigen NS-Massenmord an 33.771 ukrainischen Juden eine Ansprache hielt. »Hier offenbart sich erneut der verbrecherische Charakter des rasseideologischen Vernichtungskrieges im Osten Europas«, erklärte er und fuhr fort: »Die Verheerungen, die er in der Ukraine hinterließ, waren beispiellos.« »Wir Deutschen« sprächen »von unaussprechlicher Schuld, wenn wir vor dem Abgrund der Schoah stehen«, sagte Gauck und fügte hinzu: »Wenn wir hineinschauen, schwindelt es uns.«

Was folgt daraus? Nie wieder Faschismus? Nie wieder Krieg? Weit gefehlt: Die Zeiten, in denen so einsichtige, konsequente Forderungen Zustimmung fanden, sind im Berliner Establishment endgültig vorbei. Ein Land, das sich selbst auf Kriegskurs befindet, braucht andere Schlussfolgerungen als welche, die den eigenen Aggressionen Schranken setzen. Wie man heute argumentiert, hat Joseph Fischer 1999 vorgemacht, als er erklärte, aus der Schoah ergebe sich für die Bundesrepublik die »Verantwortung«, Jugoslawien zu bombardieren. Ganz so weit musste Gauck im Fall der Ukraine nicht gehen; aber er schlug dieselbe Argumentationsrichtung ein. Im Bewusstsein eigener Schuld, sagte der Bundespräsident in Babyn Jar, »wenden wir uns immer wieder Opfern zu, die hilflos dem Unrecht, der Not und Verfolgung ausgesetzt waren oder sind«. »In diesem Zusammenhang« sei es ihm »wichtig, den Blick auch auf die heutige Ukraine zu richten« – also dorthin, wo Berlin Anfang 2014 antirussische Kräfte mit an die Macht gebracht hat.

Die Frage, wer Opfer ist und wer Täter, das ist eine Frage der Perspektive. Waren die Nazis Täter, dann waren es auch ihre Kollaborateure, die heute in der Ukraine offiziell geehrt werden und nach deren Idol Stepan Bandera erst kürzlich eine große Straße mitten in der Hauptstadt benannt worden ist. Sich gegen sie zu stellen, das wäre die antifaschistische Perspektive. Gauck meint das Gegenteil. Er habe »die Ukrainer« als »streitbar für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit« erlebt, sagte er, den nationalistisch durchwirkten Maidan meinend – und fügte hinzu, er unterstütze Menschen, die für solche Ziele einträten. Das ist die deutsche Perspektive: sich auf die Seite der prowestlichen Kräfte der Ukraine mit all ihren Schattierungen zu stellen. Und so steht Gauck an der Schlucht von Babyn Jar neben dem Parlamentspräsidenten der Ukraine, Andrij Parubij. Parubij hat, bevor er 2013 als »Kommandant des Maidan« Karriere machte, im Jahr 1991 die faschistische »National-Soziale Partei der Ukraine« mitgegründet, die bis heute als »Swoboda« in der Tradition der NS-Kollaborateure um Bandera steht. Gauck neben Parubij: Vielleicht wächst da nur zusammen, was zusammengehört, wenn man die antifaschistischen Konsequenzen aus der Schoah preisgibt und damit letztlich das Gedenken als Legitimation der eigenen Aggressionspolitik instrumentalisiert.

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