lundi 15 août 2016

Freyheit und Democracy (62)

jW, 13.8.2016:

In seiner werktäglichen E-Mail-Werbebotschaft »Handelsblatt Morning Briefing« hysterisiert der Herausgeber der Wirtschaftszeitung, Gabor Steingart, am Freitag: »Die Türkei wird von einer Säuberungswelle heimgesucht, wie sie Europa zuletzt unter Stalin erlebte.« Irrtum, Euer Ehren. Die größte Entlassungs- und Verfolgungswelle der jüngeren Zeit inszenierte die Bundesrepublik Deutschland nach dem 3. Oktober 1990 im Anschlussgebiet. Wer will, kann sich über das Ausmaß dieser mit ausgefeilter Perfidie veranstalteten Herstellung politischer Reinheit in UN-Dokumenten informieren.

Die dort mehrfach geübte Kritik an systematischer Diskriminierung Ostdeutscher war der Bundesregierung derart peinlich, dass sie darauf in den Berichten über die Einhaltung der Konventionen über soziale und kulturelle Menschenrechte, zu denen sie alle paar Jahre verpflichtet ist, nie einging. Die staatstragenden Medien berichteten über die Nichtberichte nie.

Feststeht: Die DDR wurde 25 Jahre vor der Türkei von einer Säuberungswelle heimgesucht, wie es sie in der Bundesrepublik seit dem KPD-Verbot 1956 und dem mit »Radikalenerlass« verharmlosten Berufsverboten von den 70er Jahren an nicht gegeben hatte. In den Dokumenten zum 5. Staatenbericht der Bundesregierung an den UN-Menschenrechtsausschuss im Jahr 2004 finden sich z. B. folgende Aufstellungen: Von ursprünglich über zwei Millionen im öffentlichen Dienst der DDR tätigen Personen waren es im April 1991 noch 1,2 Millionen. Bei einem Anteil von 20 Prozent an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland betrug 2004 der Anteil der Ostdeutschen am Führungspersonal der Bundesrepublik in der Justiz und beim Militär null Prozent, in der Wirtschaft 0,4 Prozent, in der Verwaltung 2,5 Prozent, in der Wissenschaft 7,3 Prozent, in den Medien 11,8 Prozent und in den Gewerkschaften 12,4 Prozent. Hinzuzufügen wäre noch: Von den etwa 200.000 im DDR-Hochschulwesen 1990 Beschäftigten waren zwei Jahre später etwa 80 Prozent »abgewickelt«.

An den so hergestellten Verhältnissen hat sich, wie eine im Mai 2016 veröffentlichte Studie der Universität Leipzig ergab, heute insofern etwas geändert, als der Anteil Ostdeutscher in ostdeutschen Führungspositionen gegenüber 2004 weiter gesunken ist und bundesweit 1,7 Prozent ausmacht.

Wer an die staatliche Einigungskriminalität und ihre Folgen erinnert, der bekommt schlechte bundesdeutsche Presse. So ging es jetzt dem türkischen Präsidenten und Muslimbruder mit faschistischen Ambitionen, Recep Tayyip Erdogan. Er höhnte am Mittwoch in Richtung Bundesrepublik: »Ihr habt das bei der Wiedervereinigung in noch größerem Ausmaß betrieben.« Seine von ihm auch so benannten »Säuberungen« sind tatsächlich im Zahlenvergleich moderat. In der Bundesrepublik wurde seinerzeit nicht gefoltert, die massenhaft stattfindenden Treibjagden ins Exil oder in den Selbstmord blieben aber ungezählt. Und dabei war man gründlich. Die Prinzipien waren identisch: Reaktionäre bis faschistische Kreaturen an die Schaltstellen. Das bundesdeutsche Staatsmotto »Kommunisten raus, Nazis rein« galt erneut. Eine der Folgen: Wer als Nazikriegsverbrecher das DDR-Ende im Knast erlebte, durfte berechtigte Hoffnung auf »Rehabilitierung« durch die mit westdeutschen Richtern und Staatsanwälten besetzte Justiz haben. Wer freikam, erhielt eine Entschädigung und – bei Kriegsverletzung – jene Zusatzrente, die es für antifaschistische Widerstandskämpfer nie, für die Soldaten und SS-Leute des Führers, aber auch für Henker in Richter­roben und ihre Witwen gab. Der Furor von 1990, mit den ostdeutschen »Bürgerrechtlern« als Galionsfiguren, hat eine lange bundesdeutsche Vorgeschichte. Und die muss für einen Handelsblatt-Herausgeber sauber sein, muss, muss, muss.

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