Aus einem Weltwoche-Interview mit Otto von Habsburg:
In Frankreich gibt es enorme Vorbehalte gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU. Die Familie, der Sie entstammen, herrschte jahrhundertelang über ein Reich mit verblüffender religiöser und ethnischer Vielfalt. Wie stehen Sie als Habsburger zu der Frage, ob ein mehrheitlich muslimischer Staat Platz hat in der europäischen Gemeinschaft?
Ich glaube, die Türkei würde ihre Mission verfehlen, wenn sie Mitglied der EU werden würde. Grundsätzlich ist gegen die Aufnahme eines muslimischen Lands nichts einzuwenden. Albanien und Bosnien-Herzegowina werden mit Sicherheit in die EU aufgenommen werden, und beides sind mehrheitlich muslimische Staaten. Aber die Türkei hat weltpolitisch eine einzigartige Stellung. Die Türkei hat für die ganze muslimische Welt eine unglaubliche Ausstrahlungskraft. Das hat historische Gründe, denn das Osmanische Reich war doch einmal die einzige Ordnungsmacht des Orients. Dieses Prestige wirkt bis heute nach. Atatürk hat leider in seiner Trunkenheit sein Möglichstes getan, um die muslimische Tradition dieses Landes auszuradieren, aber glücklicherweise ist es ihm nicht gelungen. Die grosse Chance besteht darin, dass die Türkei eine Brückenfunktion zwischen der christlichen und der muslimischen Welt einnimmt. Und diese Mission kann sie nicht erfüllen, wenn sie sich mit Haut und Haaren der EU ausliefert.
Wer wird das Kräftemessen zwischen kemalistischen und religiösen Kräften in der Türkei gewinnen?
Der Kemalismus verliert.
Ist das eine bedrohliche Entwicklung?
Absolut nicht. Die muslimische Religion ist Teil der türkischen Identität. Damit die Türkei ihre vorhin skizzierte Rolle wahrnehmen kann, muss sie ihrer Identität treu bleiben.
Sie sind Mitglied der Islamischen Akademie und grosser Sympathisant der Muslime. Woher rührt Ihre Schwäche für den Islam?
Ich mag, dass in der islamischen Welt die Religion noch einen Stellenwert hat, den sie bei uns leider längst verloren hat. Ein muslimischer Politiker beginnt eine Rede grundsätzlich mit den Worten «Im Namen Gottes des Allmächtigen» . . .
… und wenn man mit einer arabischen Fluglinie fliegt, kommt statt einer Wettervorhersage vor Beginn des Fluges über den Bordlautsprecher erst einmal ein Gebet.
Die Muslime sind religiöser als wir im Westen. Sie handeln im Bewusstsein, dass Gott auf ihrer Seite steht, und das macht sie stärker.
Aber ist das Dilemma nicht folgendes: Die Araber haben zu wenig Aufklärung erlebt und wir zu viel?
Das ist keine schlechte Formulierung.
Hat Ihre promuslimische Haltung auch mit persönlichen Erfahrungen zu tun?
Ich mag an den Muslimen, dass sie keine Menschenfurcht haben. Wir sind feige, die Muslime sind es nicht. Bei sehr alten Leuten spielen ja gewisse Kindheitserinnerungen eine grosse Rolle.
Erzählen Sie!
Ich erinnere mich mit Wehmut an die Bosniaken an unserem Hof. Das waren unsere Wachsoldaten. Die waren bis zuletzt loyal und treu. Als die anderen davongelaufen waren, sind sie geblieben. In Schönbrunn im November 1918 sind die sogenannten Garden davongelaufen. Es hat einen Prinzen Zdenko Lobkowicz gegeben, der war Adjutant meines Vaters. Der ist auch davongelaufen. Die Bosniaken sind geblieben. Das sind solche Sachen, die einem Menschen in Erinnerung bleiben.
Ich bin ja noch recht jung, aber ich erinnere mich an eine Zeit, in der es keinen clash of civilizations gab, als die Beziehungen zwischen Islam und christlicher Welt intakt waren. In den letzten Jahren hat sich in der arabischen Welt ein Ressentiment gegenüber dem Westen entwickelt, das unversöhnlich ist. Woran liegt das?
An den Wahhabiten. Die saudische Lesart des Islam ist eine geradezu calvinistische Abart des Islam. Dass die Wahhabiten in den vergangenen Jahren so viel Einfluss gewonnen haben, ist ein Drama. Man darf aber nicht alle Mohammedaner über einen Kamm scheren. Ich bin zum Beispiel mit dem Grossmufti von Sarajevo befreundet. Er ist tiefgläubig, zutiefst in seiner Tradition verhaftet, er ist einer der grandiosesten Menschen, die ich kenne. Das sind die Muslime, mit denen sich der Dialog lohnt.
Eine Front im vielfach beschworenen clash of civilizations ist die tschetschenische. Putin rechtfertigte sein brutales Durchgreifen in Tschetschenien ja gegenüber dem Westen als seinen Beitrag zum Kampf gegen den islamistischen Terror.
Ich habe die denkbar schlechteste Meinung von Putin. Er lügt und betrügt, wenn er den Mund aufmacht. Putin ist ein Verbrecher. Er führte Russland geradewegs in einen Zustand der Rechtlosigkeit. Und Medwedew, sein Nachfolger als Präsident, hat diese Politik bis jetzt noch nicht geändert.
Aber Russland hat nun mal eine totalitäre Tradition. Ist es nicht blauäugig, wenn wir glauben, man könne in Russland von heute auf morgen eine Demokratie einführen?
Das Gerede von Demokratie in Russland ist Geschwätz, das dazu da ist, um den Amerikanern Freude zu machen. Aber es hat unter Jelzin immerhin den Versuch gegeben, im Land peu à peu die Grundregeln der Rechtsstaatlichkeit einzuführen. Was unter Putin geschah, ist das Gegenteil. Ich kannte Jelzin. Er war ein Bauer, durch und durch. Mit allen Tugenden und Untugenden eines Bauern. Putin ist das Gegenteil eines Bauern. Er ist ein Technokrat. Und zwar ein gefährlicher und gnadenloser Technokrat.
Wenn Sie das Wort "Bauer" sagen, leuchten Ihre Augen. Aber eine brauchbare Kategorisierung ist die Unterscheidung in Bauer und Bürokrat eher nicht. Ist es so, dass man als Aristokrat eine Schwäche für alles Bäuerliche hat und einem alles Städtische suspekt ist?
Das glaube ich nicht. Aber eines möchte ich Ihnen zugestehen: Ich habe eine Sympathie für das Bäuerliche. Es sind die Leute, die den Boden haben. Wissen Sie, wenn jemand Erde am Schuh hat, hat er immer einen wesentlich grösseren Kontakt zur Realität.
Neulich war ich Zeuge einer interessanten Diskussion in der französischen Botschaft in Moskau. Es sass auch der Botschafter Indiens am Tisch. Er sagte zu seinem französischen Kollegen: Ihr Europäer seid zu ungeduldig mit den Russen. Die Zeit ist auf eurer Seite. Die Tür zur Demokratie ist hier aufgestossen, man wird sie nicht schliessen können, lasst doch Putin und seinem Nachfolger etwas Zeit . . .
… um die Demokraten im Land umzubringen, natürlich.
Er sagte, früher oder später werde Russland demokratisch, aber es sei unvernünftig, Russland zu nahe auf den Pelz zu rücken. Die EU und die Nato machen sich ja in der ehemaligen Einflusssphäre Russlands breit. Wenn man sich mal in die russische Seele hineinversetzt, muss man schon Verständnis dafür haben, dass dies für Beunruhigung sorgt.
Russland ist, im Zeitalter der Dekolonialisierung, die letzte grosse Kolonialmacht. Es ist daher das grösste Element der Unruhe überhaupt in der Welt. Man muss doch nur an den Fluss Amur gehen, um das zu sehen. Es ist unglaublich, was sich dort zusammenbraut. Wenn man am Amur steht, hat man das Gefühl, an einer Art Wetterwinkel zu stehen. Man sieht schon von ferne das bevorstehende Gewitter. Früher oder später wird dieses Kolonialreich auseinanderbrechen. An all seinen Grenzen hat Russland Konflikte.
[...]
Immer wenn der Westen Russland vorwirft, antidemokratisch zu sein, kommt als Gegenargument zurück, auch bei uns stehe es mit der Demokratie nicht zum Besten.
Das ist ein wunder Punkt. Die im Westen vorherrschende Staatsform ist nicht die Demokratie, sondern eher eine Oligarchie, eine Partitokratie. Eine wirkliche Demokratie verlangt nach direkter Wahl, wie sie in England lang möglich war. Da wählte man einzelne Kandidaten, keine Parteilisten. Aber auch in England werden die Parteien immer mächtiger. Das Listenwahlrecht in den meisten europäischen Ländern fördert die Diktatur der Parteien. Ohne die direkte Wahl ist die Verbindung zwischen Volk und Politikern, abgerissen. Ich empfinde es als bedrohlich, dass zunehmend eine Entfremdung stattfindet. Wenn man in die Geschichte zurückblickt, gab es eine Zeit, die an die heutige erinnert: die Priesterherrschaft im alten Ägypten. Die Priester haben ihre eigene Sprache gehabt, und wenn jemand versuchte, sie zu lernen, wurde er hingerichtet, damit sie unter sich blieben. Nehmen Sie unsere Bürokratensprache. Die versteht kein Mensch. Von der Kaiserin Maria Theresia gibt es den schönen Satz: «Ein Gesetz ist erst dann legitim, wenn selbst der letzte Schweinehirte in Galizien es verstehen kann.» Das ist leider ziemlich lange her.
Wäre eine konstitutionelle Monarchie in manchen osteuropäischen Ländern mit ihren abrupten Regierungswechseln eigentlich eine realistische Option?
An manchen Orten. In Mazedonien. Oder im Kosovo. Wenn die Bildung des Staates dort gelingt. Ein unbeschreiblich sympathisches Land übrigens. Diese Albaner, ach Gott, sind die sympathisch. Kein Volk in Europa hat derart Schlimmes durchgemacht. Aber wie die sich aufrappeln, das ist phänomenal.
Aber weder hier noch dort gibt es Familien, die historische Ansprüche auf einen Thron erheben könnten.
Das macht doch nichts. Das gab es in Rumänien und Bulgarien auch nicht.
[...]
(Weltwoche 2/09, zit. nach: Fakten und Fiktionen, 9.1.2009)
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